„Meine Vollzeitbeziehung mit der Natur“


Ein einsames Blockhaus, weit und breit keine Menschenseele – Nicole Lischewski ist vor mehr als zwanzig Jahren nach Kanada ausgewandert und lebt mittlerweile mitten in der Wildnis, kilometerweit entfernt von der nächsten Stadt. Ein Interview über Einsamkeit, eine Vollzeitbeziehung mit der Natur, warum der Hubschrauber in Notfällen die einzige Lösung ist, Besuche von wilden Tieren und warum das Leben ein einziges Risiko ist.

Nicole Lischewski
Break Away: Du bist 1994 nach Kanada ausgewandert. Warum hast du dich ausgerechnet für dieses Land entschieden?

Nicole Lischewski: Das Land hatte mich schon als Teenager fasziniert und ich war ein großer Bryan Adams Fan (lacht). Nachdem ich im Anschluss ans Abitur ein Jahr als Au Pair in Kanada verbracht hatte, war es um mich geschehen. Mir gefielen die Natur und die lockere Umgangsart der Leute.

Break Away: Gab es einen bestimmten Auslöser für deinen Plan auszuwandern?

Nicole: Nein, nicht wirklich. Die Entscheidung ist während meines Sozialpädagogikstudiums in Deutschland langsam gereift. Ich war noch zweimal während der Semesterferien in Kanada und habe ich mich immer mehr in das Land verliebt. Ich wollte mein Berufspraktikum in Kanada machen, fand dort aber keinen Platz und beschloss dann auszuwandern. Ich habe mir damals gesagt, wenn es mir letztendlich doch nicht gefällt, gehe ich halt wieder nach Deutschland zurück. Aber im Grunde war es schon eine endgültige Entscheidung, da mein Diplom-Abschluss in Deutschland ohne das dazugehörige Berufspraktikum nicht anerkannt wird. Ich hätte in Deutschland also ohne einen gültigen Abschluss dagestanden.

Break Away: Du bist in ein einsames Blockhaus mitten in die Wildnis Kanadas gezogen. Wie kam diese Entscheidung?

Nicole: 
Mein damaliger Partner hatte die Idee, aus dem abgelegenen 350-Seelen-Dörfchen Atlin, British Columbia, in dem wir lebten und uns kennengelernt hatten, in die Wildnis zu ziehen. Wir sind beide begeisterte Paddler, Wanderer und Zeltcamper, und obwohl Atlin schon mitten in der Wildnis liegt, bis zur nächsten „Stadt“ sind es 200 km, sind da eben noch die anderen 348 menschlichen Seelen, die Straßen und Autos. Wir wollten sozusagen aus unserer Wochenendaffäre, die wir mit der Wildnis hatten, eine Vollzeitbeziehung machen.

Break Away: Wie bist du am Anfang mit diesem „einsamen Leben“ umgegangen?

Nicole: Ich fand es spannend und aufregend. Ich war sehr neugierig, wie es wohl sein wird und was es mit mir und auch der Beziehung zwischen meinem Partner und mir macht. Wir haben uns nach 17 Jahren  letzten Winter getrennt, leben aber weiter zusammen auf unserem Grundstück in der Wildnis – nur, dass jetzt jeder sein eigenes Haus hat.
Ich denke, dass das Leben in der Einsamkeit geholfen hat, uns trotz der Trennung gute Freunde bleiben zu lassen, die weiterhin zusammen leben. Man kann sich in der Wildnis nicht den Luxus leisten, einem anderen Spinnefeind zu sein, nur weil man persönliche Schwierigkeiten hat – man ist aufeinander angewiesen.

Break Away: Du versorgst dich weitestgehend selbst, aus dem Wald, deinem Garten und dem See. Hattest du dieses Wissen über „Selbstversorgung“ von Anfang an?


Nicole: Ja. Ich hatte bereits in Atlin einen Garten, Hühner und Enten, und mein Ex-Partner hat gejagt und gefischt. Insofern waren wir durch unsere eigenen praktischen Erfahrungen gut vorbereitet.

Break Away: Sehnst du dich manchmal nach der Umtriebigkeit der Großstadt?

Nicole: Nein (lacht). Manchmal würde ich gern einfach bei einer Freundin vorbeischneien können. Aber ein Großstadtmensch bin ich noch nie gewesen. Mich haben von Kindesbeinen an der Lärm, die Menschenmengen und der Mangel an Natur gestört.

Break Away: Du möchtest ganz bewusst mit der Natur im Einklang sein. Was bedeutet das genau?

Nicole: Nabelt man sich permanent vom Straßennetz und dem sozialen Netz anderer Menschen ab, gewinnt die Natur einen ganz anderen Stellenwert im Leben. Man ist dann wirklich davon abhängig, dass das Wasser im See sauber ist. Man braucht eine intakte Tierwelt, denn man ernährt sich von Elch- und Bergziegenfleisch und Seeforellen – und vielleicht noch viel wichtiger, die Wildtiere sind einem die nächsten Nachbarn. Tierbegegnungen machen einen auf noch eindringlichere Art glücklich, weil es die einzigen Begegnungen mit anderen Lebenswesen sind, die man hat.
Man fühlt sich mit allem Leben, auch den Pflanzen, dem See, den Bergen wie zu einem einzigen Organismus verwoben. Es wird einem auf sehr eindringliche Art bewusst, wie kostbar die Natur ist und was für ein unwichtiges Element der Mensch und man selbst mit seinen ganzen Bedürfnissen und Wünschen darin ist.

Break Away: Inwieweit hast du dich in den letzten Jahren selbst verändert?

Nicole: Ich glaube, ich weiß andere Menschen mehr zu schätzen, da ich sehr wenig mit Menschen zu tun habe. Mir fallen jetzt mehr die Gemeinsamkeiten auf, die mich anderen Menschen verbinden, als das, was uns als Individuen unterscheidet. Ich habe mehr Vertrauen entwickelt, dass man mit jeder Situation klar kommt, die einem das Leben stellt – nicht immer auf ideale oder wünschenswerte Weise, aber so oder so bewältigt man tatsächlich jede einzelne Schwierigkeit. Man ist so viel stärker und erfindungsreicher, als man denkt. Daher sage ich mir inzwischen einfach immer „na ja, wird schon irgendwie“ und halte mir vor Augen, dass aktuelle Schwierigkeiten in einigen Tagen oder Monaten bloß noch eine Erinnerung sein werden. Ich habe ein noch tiefer gehendes Verhältnis zu Tieren, besonders Wildtieren entwickelt. Daraus hat sich ein 10-monatiger Aufenthalt als freiwillige Helferin in einer Auffangstation für verwaiste Wildtiere ergeben, wo ich mich hauptsächlich um Schwarzbären gekümmert habe. 
Während unseres E-mail-Interviews kam ein Stachelschwein zu Besuch

Das ist etwas, das ich weiter verfolgen werde. Es ist eine äußerst intensive Erfahrung, bricht einem abwechselnd das Herz und macht einen überglücklich. Es ist eine Möglichkeit, Wildtiere ganz nah kennen zulernen, und vielleicht auch den negativen Auswirkungen, die wir Menschen auf den Planeten haben, auf kleine Art und Weise entgegen zustehen.
Der negative Effekt der Naturverbundenheit ist, dass ich den Klimawandel und das Artensterben als wahnsinnig beängstigend empfinde, wohl stärker, als wenn ich damals in Deutschland leben geblieben wäre.


Break Away: In Notfällen ist dein Haus oft nur per Hubschrauber erreichbar. Macht dir das manchmal Angst?

Nicole: Nur in dem Moment, wo ein Notfall besteht und man auf den Hubschrauber wartet. Ansonsten nicht.

Break Away: Welches Erlebnis wird dir für immer in Erinnerung bleiben?

Nicole: Oh je, so viele: einen ins Haus verirrten Kolibri mit  der Hand einfangen und nach draußen bringen, der abgemagerte Bär, der durchs Küchenfenster starrte, aber nie versuchte, ins Haus einzudringen, der Gesang eines Stachelschweins vor unserem Blockhaus, das Hermelin, das unter der Küche seine Jungen aufzog und jedes Mal aufgebracht schimpfte, wenn wir an dem Eingangsloch zur Hermelinhöhle vorbeigingen, der Elch, der vor unserm Haus durchs Eis brach und sich mühsam an Land kämpfte, das Hermelin, das auf mich zukam und an meinem Fuß schnüffelte, das Nordlicht am Winterhimmel, an einem heißen Sommertag splitternackt im Wald spazieren zu gehen, die geisterhaften Klänge des Eises auf dem See…

Break Away: Welche Tipps kannst du geben, wenn jemand ebenfalls mit dem Gedanken spielt, aus seinem Hamsterrad auszubrechen?

Nicole: Aufhören, mit dem Gedanken nur zu spielen! Meist verbaut man sich die Verwirklichung seiner Träume selbst, so gern man auch anderen, der Gesellschaft oder den Umständen die Schuld dafür geben möchte. Ganz automatisch halten wir uns meist vor, was alles schief gehen kann, warum man seinen Traum nicht verwirklichen kann. Das Leben ist aber ein einziges Risiko. Es gibt keine Sicherheit, so sehr man sich auch danach sehnt und ständig versucht, sich Sicherheit aufzubauen. Einzig sicher ist, dass man eines Tages sterben wird. Wann das ist, weiß niemand. Mit was für Gedanken möchte man sterben? Möchte man bedauern, den Lebensweg, nach dem man sich gesehnt hat, verpasst zu haben, weil man ihn stets auf später verschoben hat – bis es zu spät war? Ich glaube nicht. Es gibt keinen idealen Zeitpunkt, sein Leben zu verändern. Veränderung ist immer mit etwas Angst und Ungewissheit verbunden, bedeutet immer, dass man Dinge und/oder Menschen aufgeben muss, die einem lieb sind. Man kann ewig warten und es vor sich herschieben, aber es wird immer eine schwierige Entscheidung mit Vor- und Nachteilen bleiben. Statt sich auf die Risiken und Nebenwirkungen zu konzentrieren, hilft es, sich bewusst zu machen, warum man in der Lage ist, seinen Traum wahrzumachen. Versuch es einmal so herum: „Ich habe die Freiheit und Leidenschaft dazu, es kann mir ein erfüllteres Leben bringen, und niemand verdonnert mich dazu, es auf Teufel komm raus bis ins Rentenalter durchzuziehen, falls ich merke, es ist nicht der richtige Weg.“ Wenn man bei dem Ausstieg merkt, dass es nicht das Richtige ist – das ist wunderbar und absolut kein Versagen. Wir können ja nur durch das Ausprobieren herausfinden, was der richtige Lebensweg für uns ist. Und jedes Ausprobieren ist eine neue Erfahrung, die uns zu facettenreicheren Menschen macht als wir vorher waren.


 


Kommentare

  1. Wunderschöner Blog, Nicole L.❗️👍 Ich war so froh, endlich wieder ein aktuelleres Lebenszeichen (immerhin aus 2019!) von Ihnen zu entdecken, nachdem Ihre offizielle Website schon viel länger vom Netz gegangen ist. Gibt es noch andere Möglichkeiten, Ihnen dort auf der Spur zu bleiben, um zu verfolgen, was Sie so treiben in der sog. „unberührten Natur“ und was Sie wo sonst publizieren? Denn obwohl ich zu den Menschen gehöre, die sich einen Kindheitstraum nach einem Leben dort mit der Sicherheit eines mittlerweile beinahe 85-Jährigen nicht mehr erfüllen, würde ich gern noch etwas weiter träumen …
    Herzlich Gunther Engelhardt, Hamburg, Gy.

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